Freitag, 19. Februar 2010

LITERATUR: Corpus Delicti. Ein Prozess - Juli Zeh

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Ich bin eine Frau mit einem Penthouse über den Dächern der Stadt und einer besonderen Begabung zum Schmerz.

Mia heißt sie, ist 34 und leidenschaftliche Naturwissenschaftlerin. Für sie ist jede Gefühlregung nur ein chemischer Prozess, der sich in den Gehirnzellen abspielt. Damit hat sie den Zeitgeist verinnerlicht: Mia lebt in einer fiktiven Gesellschaft, irgendwann in der Mitte des 21. Jahrhunderts. Viel hat sich geändert: Überfordert von Wirtschaftskriesen, Geburtenrückgang, zunehmenden Depressionen, Amokläufen, Herzinfarkten und Krebserkrankungen verordnet der Staat die METHODE. Diese ist das Ergebnis einer einfachen Rechnung: körperliche Gesundheit = geistige Gesundheit = ein zufriedenes, erfülltes Leben. Rauchen ist von nun an strengsten verboten, so wie Alkohol.Jeder Raum wird steril gehalten, statt Putzwoche wird regelmäßig das Treppehaus desinfiziert, im eigenen Heim kontrolliert das Klo die Urinwerte. Was zu essen ist, wird genau vorgeschrieben, wer nicht täglich sein Training auf dem Hometrainer vollzieht wird automatisch abgemahnt. Denn der ist - wie auch das Klo und Messgeräte der Luftwerte - mit dem Ministerium für Gesundheit verbunden. George Orwell lässt grüßen.

Mia funktioniert ohne Wiederworte in der METHODE. Doch dann stirbt ihr Bruder. Im Gefängnis. Festgenommen als angeblicher Feind des Systems, ohne Aussicht auf Freiheit, begeht er Selbstmord. "Das Leben", sagt er. "Ist ein Angebot, dass man auch ablehnen kann."


Er hinterlässt Mia nicht nur seinen unbändigen Freiheitswillen, sondern auch große Zweifel an der Methode. Mea bäumt sich auf.

Ich entziehe einer Wissenschaft das Vetrauen, die behauptet, dass es keinen freien Willen gebe. Ich entziehe einer Liebe das Vertrauen, die sich für ein Produkt eines immunologischen Optimierungsvorgang hält. Ich entziehe Eltern das Vetrauen die ein Baumhaus "Verletzungsgefahr" und ein Haustier "Ansteckungsrisiko" nennen. Ich entziehe einem Staat das Vetrrauen, der besser weiß, was gut für mich ist, als ich selbst. Ich entziehe jenem Idioten das Vertrauen, der das Schild am Eingang unserer Welt abmontiert hat, auf dem stand: "Vorsicht, Leben kann zum Tode führen"


Für sie beginnt ein Kampf mit der Methode, ein quälender Justizprozess, Ächtung ihrer Mitbürger. Immer dabei ist Kramer, der die staatliche Seite vertritt und mehr und mehr eine verwirrende und paradoxe Beziehung zu Mia aufbaut. Die Mühlen der Justiz mahlen langsam und stetig, doch genau das soll Mea das Rückgrat brechen. Die jedoch, schon beinahe den Lebensmut verloren, kämpft weiter. Bis zum bitteren Ende. Immer in Gedanken an ihren Bruder: Sie will wissen, was genau passiert ist. Und noch mehr: was genau mit ihr passiert.

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Wer gut und wer nun böse ist, weiß man bei Julie Zeh nie am Ende. Aber eigentlich ist es, beim Zuschlagen des Buches, auch egal, Was bleibt, ist erstmal das Gefühl, tief Luft holen zu müssen und alles noch einmal durch den Kopf gehen zu lassen. Das hier ist keine moralische Zukunfts-Vision, die uns nochmal mit erhobenem Zeigefinger daran erinnert, was möglicherweise bald auf uns zukommen wird, wenn wir nichts ändern. Das ganze ist ein Drama voller Persönlichkeit, Beziehung, menschlichen Abgründen und seelischen Höhenflügen, in die stärksten Wörter gepackt. Ohne großen Pathos, ohne Helden. Nicht überzeugt? Dann sei noch so viel gesagt:

Deine Knie seien mein einziger Stuhl.
Dein Rücken mein Tisch.
Deine Augen mein Fenster.
Dein Mund sei das Glas, aus dem ich trinke.
Dein Herz meine Nahrung, dein Puls meine Uhr, dein Leben meine Zeit.
Dein Atem sei meine Luft.
Dein Gesicht mein Mond, wenn du dich bei Nacht über mich beugst,
Und meine Sonne, wenn du bei Tag für mich lachst.
Deine Stimme sei mein einziges Geräusch.
Dein Puls meine Uhr, dein Leben meine Zeit.
Dein Tod sei meiner.

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